Die Verurteilung ist inzwischen Volkssport geworden. Betroffene von Diskriminierung und Sexismus und Co melden sich zu Wort und was folgt ist von vielen Seiten ernsthafte Anteilnahme. Das ist dem Grunde nach auch gut so.
Es gilt, dass Betroffenen Glauben geschenkt werden muss. Dieser Grundsatz ist richtig. Es kann schließlich niemand beurteilen, was eine betroffene Person schildert außer die direkt beteiligten Personen.
Einen Umgang kann es folglich nur geben, wenn man Betroffene darin stärkt sich mitzuteilen, einen Schutzraum schafft und dann einen Umgang damit ermöglicht. Diese Stärkung gelingt aber nicht, wenn die Äußerungen von Betroffenen zunächst in Zweifel gezogen werden.
Aus diesem Grundsatz werden aber falsche Folgerungen abgeleitet, die für eine freiheitliche Gesellschaft fatal sind. Es gibt einen relevanten Unterschied zwischen „Betroffenen Glauben schenken“ und damit umgehen.
Ein notwendiger gesellschaftlicher Unterschied, der auch Folgen für den Umgang mit dem Geschehen hat und vor Vorverurteilungen schützen soll.
Aus dem Grundsatz das Betroffenen Glauben zu schenken ist, resultiert nämlich eben nicht zwangsläufig, die Verurteilung des Gegenüber. Wäre dem so, bräuchte es keinen Rechtsstaat und rechtsstaatliche Verfahren mehr und wir würden eintreten in eine Ära des Autoritären, in der Aussagen von Opfern, vermeintlichen wie echten, das Verfahren ersetzen würden.
Mit der Äußerung der betroffenen Person, die ein verletzendes Verhalten schildert, wäre nämlich dann das Verfahren beendet. Die betroffene Person schildert ein Verhalten, es ist ihr zu Glauben und weil ihr zu Glauben ist, kann es auch keinen anderen Umgang damit geben.
In der Folge wird behauptet, das was Gewalt oder verletzendes Verhalten ist, ausschließlich durch das Opfer definiert wird und ergo die Deutungshoheit nicht beim Täter liegt und auch nicht bei der Gesellschaft, ergeben sich auch daraus problematische Folgen.
Dieser Kurzschluss führt direkt in einen Autoritarismus, denn postuliert wird häufig vorschnell, dass das Urteil mit der Äußerung feststeht und jeder Zweifel daran, führt zu einer Ächtung.
Damit besteht auch die Gefahr, dass Fragen von Identität oder Religion absolut gesetzt werden und jedes in Frage stellen, Sanktionen nach sich zieht, die klassische darin bestehen, den Personen, die das Verfahren in Frage stellen, Parteinahme für die vermeintlichen wie echten „Täter*innen“ vorzuwerfen.
Der Fall Gil Ofarim.
Ofarim behauptete, dass er in einem Leipziger Hotel antisemitisch beleidigt worden wäre. Diese Aussage wurde aufgenommen und es folgte eine große Anteilnahme verbunden mit einer faktischen Vorverurteilung der vermeintlichen Täter*innenpersonen. Nach einem rechtsstaatlichen Verfahren zeigte sich, die Geschichte war gelogen, was Ofarim selber einräumte. Aus einer empfundenen Kränkung des Umgangs im Hotel resultierte eine Betroffenenerzählung, eine großflächige Anteilnahme, einschließlich Vorverurteilung.
Und auch ich, war damals zu schnell bereit nicht nur den Worten Glauben zu schenken, sondern auch das Urteil vorwegzunehmen. Würde man den oben stehenden Satz, dass ausschließlich das Opfer definiert absolut setzen, was einige fordern, hätte es das Verfahren nicht mehr gegeben.
Sexualisierte Gewalt
Schwieriger werden die Fälle psychischer oder sexualisierter Gewalt, denn hier steht in einem rechtsstaatlichen Verfahren sehr oft Aussage gegen Aussage. Damit ist die juristische Ausdeutung schwierig, denn nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt die Unschuld bis zum Beweis der Schuld als erwiesen.
Da aber häufig Beweise fehlen, werden auch tatsächliche „Täter*innen“ einstweilen frei gesprochen aus Mangel an Beweisen. Das aber ist die notwendige Konsequenz eines rechtsstaatlichen Verfahrens, in einem freiheitlichen Rechtsstaat, auch wenn das im Einzelfall schwer auszuhalten ist.
Es ist daher auch nachvollziehbar, dass postuliert wird, dass ein möglicher Freispruch nichts an den Vorwürfen ändert oder auch dann wenn das kritisierte Verhalten nicht einmal strafrechtlicher Natur ist, man weiterhin davon spricht, dass die Vorwürfe bestehen bleiben. Die Folgen die daraus abgeleitet werden, verraten aber oftmals die autoritäre Natur dahinter. Es geht einigen, dann weniger darum etwas zu ändern als die Deutungshoheit zu behaupten.
In einem Beispielsfall wurde einer Person etwa vorgeworfen, dass er nicht konsensualen Beischlaf mir einer anderen Person hatte. Es bildete sich aufgrund der Vorwürfe eine Unterstützergruppe, die dieser Vorwürfe fortführte.
Im rechtsstaatlichen Verfahren schließlich wurde die beschuldigte Person freigesprochen und zwar weil bereits nach den Schilderungen des „vermeintlichen Opfers“ keinen Raum für problematisches oder strafrechtlich relevantes Verhalten gab. Es standen also keine Aussagen gegenüber sondern das „Opfer“ berichtete von einem Verhalten, dass einer strafrechtlichen Bewertung entzogen war.
Den Unterstützerkreis interessierte das nicht. Es folgte dem Grundsatz, dem Opfer ist Glauben zu schenken, was Gewalt ist definiert allein das Opfer und setzte seine Kritik fort mit dem Verweis darauf fort, dass auch ein rechtsstaatliches Urteil daran nichts ändern wird. Ob auch die betroffene Person dieses Vorgehen wollte war dabei auch nicht mehr relevant.
Mehrere Ebenen wurden miteinander vermischt.
Dieses Vorgehen ändert aber nichts und es löst auch die Frage nach der Eigenverantwortlichkeit höchst einseitig auf.
Umso wichtiger ist es daher, streng zwischen „Betroffenen Glauben schenken“ und „Umgang/Verfahren“ zu trennen.
Es ist nicht emanzipatorisch vorschnell aus einer Betroffenenerzählung zwangsläufig einen „Täter*innenvorwurf“ abzuleiten.
Und auch der Satz, dass was Gewalt ist ausschließlich durch das Opfer definiert wird und damit einer Bewertung entzogen wird, ist nicht aufgeklärt sondern hat ein fast autoritäres Momentun, dass auch jede Eigenverantwortung negiert. Opfer ist demnach wer von sich behauptet Opfer zu sein. Die Folge ist der Eintritt in die dann tatsächlich selbstverschuldete Unmündigkeit.
Beispielsfall:
Zwei Personen gehen zusammen weg, trinken dabei zu viel Alkohol und vollziehen schließlich den Beischlaf. Eine von beiden Personen ärgert sich im Folgenden darüber, denn wenn sie nüchtern geblieben wäre, wäre es nicht dazu gekommen.
Eine Person würde danach sagen, dass die Täter*inperson gewusst habe, dass man keinen Alkohol trinken wolle und daher die Situation ausgenutzt hätte. Sie beschreibt folglich ein Opferverhalten, dass getreu der Behauptung, dass einzig und allein das Opfer die Deutungshoheit hat, zu einer Ächtung führen würde. Eine Eigenverantwortung gibt es nicht mehr. Opfer ist, wer behauptet Opfer zu sein. Diese Fälle gibt es tatsächlich.
Eine andere Person, die sich ebenso darüber ärgern würde, den Beischlag vollzogen zu haben, würde sich ggf. darüber ärgern und beim nächsten mal weniger trinken. Keine Opfererzählung und damit keine Tat und doch beide Situationen identisch, bis auf die Wahrnehmung des vermeintlichen Opfers.
Aus dem Glauben an die Betroffenperspektive muss sich daher ein Verfahren anschließen, dass auch der Person, der fehlerhaftes Verhalten vorgeworfen wird, einen Umgang damit zu finden und eine Auseinandersetzung zu ermöglichen.
Dies wird zum Teil negiert damit, dass es zwar Schilderung von Betroffenen gebe, die man aber aus Gründen des Opferschutzes nicht konkretisieren kann, aber man dem Glauben schenken muss, da man sonst ja dem Grundsatz dem Betroffenen Glauben zu schenken entgegen handeln würde.
Ein in sich geschlossenes System.
Das Opfer wird zum Ankläger und Richter zu gleich, eine Auseinandersetzung gibt es nicht mehr. Das wiederum ist alles aber nicht emanzipatorisch sondern vor allen Dingen Kern eines autoritären Handelns aus identitätspolitischen Gründen.
Emanzipatorisch wäre eine Auseinandersetzung, die auch der Person, der ein Verhalten vorgeworfen wird, einen Umgang ermöglicht und die Strukturen hinterfragt.
Es ist zu konstatieren, dass der Hang zum Autoritären nicht nur auf der rechten Seite stark ausgeprägt ist, sondern auch vermeintlich linke und emanzipatorische Gruppen aus Gründen des vermeintlichen Opferschutzes mehr und mehr in diese Falle tappen.
Die psychischen Folgen für Menschen, denen ein nicht zutreffender Vorwurf gemacht wird, sind darüber hinaus gravierend und können ebenso zu Traumatisierung, Angst, Depression und Scham führen und langanhaltend sein.
Umso mehr beunruhigt wie schnell inzwischen das Wort „Täter*in“ genutzt wird. Aus Gründen des vermeintlichen Opferschutzes und Unterstützung folgt eine Selbstjustiz, die nach dem archaischen „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ handelt, im Glauben auf der richtigen Seite zu stehen.
Die Grundlagen sollten daher sein:
- Betroffenen glauben schenken, Betroffenen zuhören und jegliches Handeln muss sich an den Betroffenen und deren Willen orientieren. Es ist nicht emanzipatorisch ohne Rücksicht auf die betroffenen Personen, insbesondere diejenige, die eine Verletzung schildern, selber das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und beweist eher einen patriarchalen, autoritären Zug.
- Nicht vorschnell von „Täter*innen und Opfern“ schreiben oder sprechen sondern von Betroffenen und meldenden und gemeldeten Personen um allein durch die Sprache keine weitere Viktimisierung und analog dazu Vorverurteilung vorzunehmen. (Sprache beeinflusst Denken)
- Den Kreis der Informierten zunächst gering zu halten um eine Auseinandersetzung zu ermöglichen. Denn ein Outcall hat meist auch für die Personen, die eine Verletzung schildern, gravierende Folgen.
- Der Person gegenüber der ein Vorwurf gemacht wird, die Möglichkeit der Auseinandersetzung und Reflektion einräumen, damit diese auch die Möglichkeit bekommt sich selber zu ändern.
- Bestehende Strukturen hinterfragen.
- Die öffentliche Auseinandersetzung ist das Ende einer Eskalationsspirale und ändert meist weder etwas an dem kritisierten oder täterschaftlichen Verhalten, noch stärkt sie das Opfer. Sie kann daher nicht am Anfang der Auseinandersetzung stehen sondern markiert das Ende als weithin ausgesprochene Warnung.