Es geht in diesem Beitrag nicht um die Aufarbeitung von Schuld, um die Relativierung von Gewalt. Es geht darum zu verstehen, was geschehen ist, um nachzuzeichnen wie es dazu kommen konnte.
Es gibt diesen einen Ort in Leipzig, auf den sich die Aufmerksamkeit konzentriert. Es ist das Connewitzer Kreuz und es ist Silvester. Connewitz, dieser Stadtteil ist dabei seit langen zur Projektionsfläche geworden. Für die einen als Synonym für „Linksextremismus“ bis hin zum „Terror“, für andere als kultureller Gegenentwurf.
Kaum eine der Zuschreibungen wird dem Stadtteil und seinen Menschen gerecht. Aber oft genug reicht es sich an Projektionsflächen abzuarbeiten, aufzureiben. Zuschreibungen und selektive Wahrnehmungen bestimmen das Bild.
Ein Bild, dass nach Silvester 2019/2020 bundesweit durch die Medien gehen wird, mit den bekannten Zuschreibungen und eine erneute erregte Debatte fördert.
—
Vorabend:
Die Polizei hat starke Kräfte am Connewitzer Kreuz zusammengezogen um drohenden Ausschreitungen Herr zu werden. Man bereitet sich auf das vor, was eigentlich verhindert werden soll.
Seit dem Nachmittag kreist ein Hubschrauber über dem Viertel. Die nachgeschobene Begründung sind Steindepots auf Hausdächern, die es nicht gibt. Es gibt anlasslose Kontrollen. Einige fühlen sich dadurch schikaniert und stigmatisiert. Die Stimmung ist angespannt aber viele werden davon (noch) nichts mitbekommen.
Die Wahrnehmung von Connewitz bestimmt dabei auch das Handeln der eingesetzten Polizeibeamt*innen. Es macht im konkreten Handeln einen Unterschied, welche Annahme man selber hat und wo man sich bewegt.
Man geht anders in einer Situation, wenn man mit Angriffen rechnet, ist vorsichtiger, vielleicht auch abweisender. Das ist kein Vorwurf sondern menschlich, dient aber als Teilerklärung für das Folgende.
Connewitz gilt in Polizeikreisen als „linke Hochburg“, die unzähligen Angriffe auf den Polizeiposten sind bekannt. Man bereitet sich auf einen „schwierigen“ Einsatz vor.
Perspektiven:
H. trifft sich an diesem Abend mit Freunden, in der Nähe des Kreuzes. Man feiert gemeinsam. Eine Feier, wie tausend andere auch. Zusammen sein mit Freunden, etwas trinken und dann entweder kurz vorher oder nachher zu einem zentralen Punkt gehen, dem Feuerwerk zusehen, mit wildfremden Menschen anstoßen und irgendwann ins Bett fallen.
H. ist gerade mit der Schule fertig geworden. Er wird heute nicht nach Hause kommen und auch Morgen nicht.
Auch A hat sich mit Freunden getroffen. Kurz nach 0:00 Uhr verlassen sie gemeinsam die Wohnung in der Nähe des Kreuzes. Sie sind später noch mit Freunden verabredet. Es ist bereits gegen 0:40 als sie am Wiedebachplatz von einer Gruppe Polizeibeamter rüde zur Seite gedrängt und geschubst werden. Sie wissen nicht was vorher geschehen ist und warum die Polizeibeamten, aus ihrer Sicht so aggressiv reagieren.
Durch die wahrgenommene Aggression verändert sich auch die eigene Wahrnehmungund Haltung gegenüber dem Folgenden. Eine der Gründe warum es ab 0:30 Uhr bis fast gegen um 3 Uhr immer wieder zu erheblichen Auseinandersetzungen zwischen eingesetzten Polizeibeamt*innen und Feiernden kommt.
Der brennende Einkaufswagen.
Kurz nach 24 Uhr wird ein Einkaufswagen, indem aus Pappe ein Polizeiauto liegt von einer Person auf die Kreuzung geschoben und fällt dort um.
Es handelt sich dabei um ein etwas makabres Ritual. Die Geschichte mit dem Einkaufswagen ist nicht neu.
3 Polizeibeamte entschließen sich kurzerhand, denjenigen der den Wagen dorthin geschoben hat, dingfest zu machen. Sie rennen hinter ihm her, bringen ihn zu Boden.
Das ist ungewöhnlich, denn dieser Zugriff erfolgt ohne die nötige Eigensicherung. Es ist kein orchestrierter Zugriff, sondern wirkt eher wie eine Spontanhandlung.
Eine Spontanhandlung, die eine Kaskade in Gang setzt.
Die versuchte Festnahme sehen eine Reihe von Personen. Daraufhin attackieren mehrere von Ihnen die 3 Polizeibeamten. Einer wird angesprungen, geht dabei zu Boden, verliert kurzzeitig das Bewusstsein. Es dauert einen Augenblick bis weitere Beamte dazu kommen, den Verletzten Kollegen von der Straße holen und die Angreifer vertreiben.
Später wird in einem Interview ein eingesetzter Polizeibeamter sagen, dass es für ihn ein „erschreckendes Bild“ war, wie der Kollege gestützt über die Straße geführt wurde, während seine Beine auf dem „Boden schleiften“.
Die eingesetzten Polizeibeamten sind mit Funk miteinader verbunden.
Was genau geschehen ist, wie es dem Kollegen geht, wie schwer und ob er überhaupt verletzt ist, wissen die Beamten nicht. Sie sehen einen verletzten Kollegen und wenig später, wird, so wie es in der ersten Version der Polizeimeldung steht, von einer „Notoperation“ und einem „schwer verletzten“ Beamten die Rede sein.
Von da aus bis zur Lebensgefahr ist es nicht weit. Viel später, nachdem die Presse recherchiert, wird deutlich, dass es keine Lebensgefahr gab, keine schweren Verletzungen, keine Notoperation.
Nur können das die eingesetzten Beamten nicht wissen.
Es gibt eine Zeit am Connewitzer Kreuz bis zum Einkaufswagen und eine Zeit danach.
Für die eingesetzten Beamten ist deutlich, dass einer von Ihnen angegriffen und zu diesem Zeitpunkt mindestens schwer verletzt wurde. Diese Information verändert die Wahrnehmung. Die Beamten sind jetzt in einer für sie endgültig „feindlichen Umgebung“ in einer angespannten Lage und es ist schwer zu unterscheiden, wer einfacher Feiernder ist und wer Angreifer.
Die meisten Menschen, Beamte wie auch Feiernde werden das Geschehen rund um den Einkaufswagen nicht mitbekommen haben. Immer wieder kommt es zu Rangeleien und Festnahmen. Das harte Vorgehen der Beamten, erzeugt Solidarisierungseffekte, die Situation heizt sich immer weiter auf.
Es hätte vermieden werden können.
Perspektiven 2: H. hat von alldem nichts mitbekommen. Zuviel ist am Kreuz los, zuviele Böller fliegen, zu viele Menschen bewegen sich. H. verliert seine Gruppe, steht am Rand, als auf einmal ein Zugriff erfolgt.
H. wird festgenommen. Warum weiß er nicht und das wird ihm auch später im zentralen Gewahrsam in der Dimitroffstraße nicht eröffnet. Erst am 02.01. wird H. den Gewahrsam wieder verlassen können. Das die Staatsanwaltschaft inzwischen wegen versuchten Mordes ermittelt, weiß er nicht. Den Vorwurf kennt er nicht.
Er wird erst freigelassen als klar ist, dass es gegen ihn kein belastendes Videomaterial gibt. Vielleicht nur eine Verwechselung? Anklage wird trotzdem erhoben. Ein Beamter meint erkannt zu haben, dass H. etwas in Richtung der Polizeikräfte geworfen haben soll.
H. ist nicht dunkel gekleidet. Er fällt auf und prägt sich dadurch eher ein. Es gibt kein Videomaterial und keine anderen Zeugen. H. der nur feiern wollte, sieht sich nunmehr mit einem strafrechtlichen Verfahren konfrontiert.
Er ist nicht der Einzige. Viele weitere haben ähnliche Wahrnehmungen. Wahrnehmungen von sehr aggressiv agierenden Polizeibeamt*innen, von grundlosen Festnahmen.
Danach:
Die erste Polizeimeldung erscheint um 4:21 Uhr. Es ist die Rede davon, dass der Einkaufswagen in eine Gruppe von Polizeibeamten geschoben wurde. Die Gruppe seit damit „attackiert“ wurden. Von einer Notoperation ist Rede. Die Pressestelle der Polizei verarbeitet das, was ihr von den eingesetzten Beamten mitgeteilt wurde.
Diese Pressemeldung wird aufgegriffen und von den Medien verarbeitet. Oft genug wird dabei am Anfang, weil man schnell sein will, nicht gegengeprüft.
Die Meldung der Polizei wird behandelt, als handle es sich um einen neutralen Akteur, was nicht stimmt.
Erst am 02.01. als sich der Nebel langsam lichtet, wird deutlich das der Einkaufswagen nicht in eine Gruppe von Polizeibeamten geschoben wurde, der Einkaufswagen war nicht einmal in der Nähe einer Gruppe von Beamten.
Aber die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die erste Meldung der Polizei, der vorgebliche „Mordversuch“ prägen die öffentliche Debatte viel stärker. Eine Debatte, die bundesweit geführt wird, und in weiten Teilen dem Geschehen nicht gerecht wird.
Aber es ist halt Connewitz. Es bietet sich an gut eingeübte Reflexe zu wiederholen. Der Ministerpräsident wird hernach von „Terror“ sprechen.
Ein mehr als sprachlicher Missgriff. Es ist kein Terror. Es ist eine dynamische Situation, in der Folge Menschen verletzt wurden.
Aber die selektive Wahrnehmung, dass Gefühl man habe es schon immer gewusst, die Bestätigung der eigenen Grundannahmen wirkt seit jeher schwerer als eine differenzierte Betrachtung.
Die Debatte danach, die sich vom eigentlich Geschehen weg entwickelt, prägt im ersten Schritt auch die ersten Urteile der Gerichte.
Auch Gerichte werden durch öffentliche Debatten beeinflusst. Richter*innen sind Menschen.
Das erste Urteil wird wenige Tage danach gesprochen – in einem Schnellverfahren.
Der Angeklagte, ist ein Straßenkünstler, strafrechtlich bislang nicht in Erscheinung getreten, nicht der „linken Szene“ zuordnenbar. Der Vorwurf: er haben einen Beamten ein Bein gestellt.
Im Schnellverfahren wird er zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten ausgesetzt zur Bewährung verurteilt.
Ein hartes Urteil, dass nur durch die erregte medial geführte Debatte zu erklären ist.
Die Forderung man müsse Durchgreifen wird gern von der Politik erhoben. Man will Handlungsstärke beweisen.
Ein Jahr danach: Die Aufregung ist weiter gezogen. Die Verfahren laufen. So ganz wird nie aufgeklärt werden, was genau geschehen ist, warum die 3 Beamten sich für den Zugriff entscheiden und warum einer von Ihnen offenbar Kontakte ins rechte Kampfsportmillieu hat.
Die Aufarbeitung wird anhalten. Aber die Schlagzeilen, geschrieben, sind wirkmächtiger als die Realität. Der Mythos hat sich bestätigt und neu aufgeladen.
In wenigen Tagen ist wieder Silvester.
Es wird dieses Jahr anders. Es ist Pandemie, große Ansammlungen sind ohnehin untersagt.
Genau deswegen lohnt sich ein Blick zurück, auch um die eigenen Annahmen und Wahrnehmungen zu hinterfragen.
Die Realität ist meist komplexer als eine Überschrift, als ein Gefühl, als die eigene Wahrnehmung.
