Tag X und kein Ende – was die Polizeiakten verraten

Der sogenannte Tag X, 03.06.2023, in Leipzig bewegt auch weiterhin die Gemüter.

Am Wochenende nach der erstinstanzlichen Urteilsverkündung im Fall Lina E. hatte die linksautonome Szene zu einer Reaktionsdemonstration in Leipzig aufgerufen. Diese Demonstration wurde rechtskräftig verboten. Sowohl das Verwaltungsgericht, als auch das Oberverwaltungsgericht bis hin zum Bundesverwaltungsgericht, dass erst am Ereignistag selber entschied, hatten das Verbot im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bestätigt.

Parallel dazu hatte die Stadt per Allgemeinverfügung alle Demonstrationen im Kontext dieser Demonstration verboten und ein spezifisches Demonstrationsverbot verhängt. Die Polizei hatte beginnend ab Freitagabend bis zum Sonntag hin im kompletten Süden von Leipzig ein Kontrollgebiet eingerichtet.

Aufgrund dieses massiven Eingriffs in die Versammlungsfreiheit und damit den Grundrechten, das einem faktischen Verbot gleichkam hatte der Verein Say it loud e.V., für den Sonnabend ein Demonstration unter dem Motto „die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“ angemeldet. Diese Demonstration war nicht untersagt.

Als gegen 15 Uhr am Sonnabend das Bundesverfassungsgericht das Verbot der „Tag X“ Demonstration, die auf Höhe der HTWK starten sollte bestätigte, begaben sich auch mögliche Teilnehmer*innen dieser Demonstration zum Alexis Schuhmann Platz, dem Ort der angemeldeten und nicht verbotenen Versammlung für Versammlungsfreiheit.

Was folgte ist bekannt. Die Demonstration durfte nicht loslaufen und endete für 1323 Personen in einem Polizeikessel, der von 18 Uhr – bis gegen 6 Uhr am Folgetag reichte.

Nunmehr hat „Frag den Staat“ über das allgemeine Auskunftsersuchen Einblick in die polizeilichen Protokolle bekommen.

Die Ergebnisse lassen tief blicken. Es wird deutlich, dass es nie die Absicht gab die Demonstration laufen zu lassen. In der Gesamtabwägung war klar, dass sobald eine bestimmte Anzahl an Personen an dieser Demonstration teilnimmt, man diese nicht laufen lassen würde.

Eine politische Entscheidung, die nicht allein die Polizeiführung getroffen hat, sondern die auch durch den Innenminister gedeckt war.

In Erwägung, dass es zu Gewalt kommen könnte wurde durch die Polizei nicht durch die anwesende Polizei- und Versammlungsbehörde aka Stadt Leipzig eine stationäre Versammlung festgelegt zu einem Zeitpunkt als noch Verhandlungen zwischen Versammlungsleiter und Versammlungsbehörde liefen.

Dies geschah zu einem Zeitpunkt als es offenkundig keinen Grund dafür gab. Zu diesem Zeitpunkt war die Versammlung schon weiträumig von Polizeikräften (4000 Beamte) umstellt. Auch das sagen die Protokolle deutlich.

Mit fortlaufender Zeit wurde die Versammlungsmenge, weit über 1000 Personen, unruhiger und es kam zu einem Ausbruchsversuch aus dem zu diesem Zeitpunkt schon vollständigen Umschließung der Demonstration. In der Folge entwickelte es sich ein Krawall, der nach wenigen Minuten allerdings beendet war und sämtliche Personen auf Seiten des Heinrich- Schütz Platzes wurden umstellt.

Ursprünglich ging die Polizei davon aus, dass sie lediglich 200 Personen umstellt hatte. Es waren 1323. Selbst nach Stunden war der Polizei die Zahl nicht klar, die Versorgung unsicher und bis nachts 22 Uhr erst 100 Personen abgearbeitet.

Es ist der Offenbarungseid des Rechtsstaates. Gegen all diese Personen wird nach wie vor ermittelt wegen Verdachts des Landfriedensbruchs. Im Kessel waren auch völlig unbeteiligte Menschen, ein Großteil. Der Vorwurf sie wollten an einer angezeigten und nicht verbotenen Versammlung teilnehmen.

„Frag den Staat“ hat ebenfalls nachgefragt, ob alle Personen nunmehr in der polizeilichen Kriminalstatistik und beim VS als Linksextreme geführt werden und so Eingang finden. Es wäre keine Überraschung und auch die Argumentationsgrundlage für den rechtskonservativen Rand weitere Repressionen gegen vermeintlich linke Gruppen zu fordern.

Ich war der Versammlungsleiter dieser Demonstration, meine Freundin Irena Rudolph-Kokot war die Anmelderin.

Einer Demonstration, die nichts weiter wollte als für Versammlungsfreiheit zu demonstrieren in einem Staat, der im Einzelfall das Interesse an der Unversertheit einer Glasscheibe und Mülltonne höher gewichtet als die Grundrechte.

Wir waren bis in die Nacht vor Ort, haben versucht zu verhandeln, mit Menschen gesprochen, verzweifelte Eltern erlebt und danach mit Menschen getroffen, völlig normalen Menschen mit Familie, bei denen etwas an diesem Tag kaputt gegangen ist.

In uns ist an diesen Tag auch etwas gestorben und es verfolgt uns bis heute.

Auch wir als Versammlungsleiter und Anmelder*in haben Fehler gemacht. Auch das gehört dazu.

Und alles was wir wollen ist Gerechtigkeit für jene, gegen die zu Unrecht ermittelt wird, die zu Unrecht zu Gewalttätern abgestempelt werden und die kriminalisiert wurden.

Wir werden nicht vergessen und wir werden nicht ruhen. Wir kämpfen für Gerechtigkeit, immer noch.