Fahrrad fahren.
Fahrrad fahren in Leipzig ist eine Grenzerfahrung und zwar in vielerlei Hinsicht. Zum einen ist da die Stadt der Diebe. Fahrräder werden geklaut und dann halt auch mal durch die Polizei verhehlt, Leipzig Insider wissen was gemeint ist.
Trotz der Idee Fahrräder codieren zu lassen oder mit Schlössern auszurüsten, die Signale an ihre Besitzer senden, wenn sie widerrechtlich geöffnet werden, ist die Erfolgsquote gering. Selten bekommt man sein Fahrrad wieder. Eine Fahrradversicherung ist meist teuer und spätestens nach dem 2 geklauten Fahrrad ohnehin passe.
Es gibt die Gelegenheitsdiebe, die schlecht gesicherte Räder sich quasi „ausborgen“. Dann gibt es die Beschaffungskriminalität, wo Räder entwendet, auseinandergebaut und weiterverkauft werden und die Banden, die quasi mit Lieferwagen des Nachts unzureichend gesicherte Räder mit Schloss einladen, in Hinterhöfen und Garagen knacken und dann per LKW weiterverkaufen, meist Richtung Osten.
Hin und wieder landet dann so eine Lieferung auch mal bei der Polizei und dann ja, ähm, siehe oben.
Wer ein Fahrrad sein eigen nennt und noch nicht bestohlen wurde, ist in Leipzig noch nicht angekommen, sagt man.
Freund:innen wurden sogar aufwändig angefertigte Einzelräder, die angeschlossen im abgeschlossenen Kellerabteil standen aus diesem entwendet.
Seit dem ich hier lebe: Bin ich 5 Fahrräder los geworden.
1 X Raub, sehr unangenehm.
1 x Einbruch in den Keller
1 x aus dem Hausflur, gut das Haus lag direkt neben dem Gefängnis.
1 x mal nach einem Unfall, das Rad war halt dann einfach weg.
1 x mal aus dem Hof des Wohnhauses. Immerhin der Kindersitz wurde mir gelassen.
2 mal wurde zudem der Sattel geklaut, wobei in einem Fall, dann ein anderer Sattel mit Stange, die allerdings nicht passte zurückgelassen wurde. WTF? WTF!
Nicht selten bin ich Morgens schweißgebadet aufgewacht, wissend, dass ich vergaß das Rad mindestens mal im Hausflur anzuschließen. Noch im halboffenen Bademantel mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herunterhastend um dann doch mit einem tiefen Seufzer festzustellen, dass mein treuer Gefährte, nicht in die freie Wildbahn entlaufen ist.
Neben den Gefahren des Diebstahls, die man etwas senken kann, indem man sein Fahrrad immer an etwas anschließt und Nachts nicht draußen stehen lässt, lauern die Gefahren des Straßenverkehrs.
Zum einen der Kampf aller gegen Alle und zum anderen Straßen, die liebevoll mit Scherben und anderen Utensilien belegt wurden. Es scheint in Leipzig offenbar Brauch zu sein, an verschiedenen Stellen in der Stadt Straßen und Fußwege liebevoll mit Dingen zu bedecken, die dort nicht hingehören. Da gibt es die zurückgelassenen Glasflaschen in Puzzleform nach öffentlichen Gelagen (in einigen Stadtteilen scheinen öffentliche Gelage und Scherbenpuzzle quasi Alltag zu sein, belastbare Zahlen gibt es dazu leider nicht), Tassen und Porzellan in scharfkantiger Form, Unrat und eben auch ganze Nägel.
Wer regelmäßig fährt lernt früher oder später auf die harte Form, dass man standardmäßig in Leipzig mit Manteln in Form des Schwalbe Marathon oder anderer lang haltbarer Mäntel fährt. Tut man es nicht, bekommt man Gelegenheit quasi wöchentlich an seinen Skills im Schlauchwechsel und Fluchen zu arbeiten.
Und dann ist natürlich noch der regelmäßig besungene Kampf aller gegen Alle. Thomas Hobbs hätte am Leipziger Straßenverkehr Freude gehabt.
Radfahrer:innen gegen Autofahrer:innen gegen Fußgänger:innen. Fußgänger, denen es quasi egal ist, wenn sie auf einem deutlich markierten Radstreifen laufen und sich dann quasi noch aufregen, wenn man fröhlich klingelnd Rücksichtnahme einfordert. Radfahrer:innen, die Fußwege als dornige Chancen mit erhöhtem Slalomfaktor verstehen und Autofahrer:innen, die die Straße als natürliches Habitat verstehen und jedweden Eindringling in dieses Habitat entweder mit Nichtachtung strafen, was nicht selten zu Unfällen führt oder gleich direkt mit drohenden Gebärden meinen zur Räson bringen zu können.
Hupen und überholen mit dem Höchstabstand von 20 cm keine Seltenheit. Mitunter fühlen sich dann Radfahrer:innen motiviert dem „Platzhirsch“ die Meinung zu sagen und mit Fußtritten Platz einzufordern, was mitunter dazu führt, dass sich dann die Autofahrer:innen vor Gericht über die Ungerechtigkeit der Welt und ihr Opferdasein erklären können, während ich auf der anderen Seite, die „bösen“ Radfahrer:innen vertreten darf.
Kurz, es ist kompliziert.
Und noch bei jedem neuen Radstreifen auf der Straße, der die Platzverhältnisse neu regelt erhebt sich der Sturm der Vereinigung der unschuldig entrechteten SUV Fahrer:innen, die mit Lenkrad und Hupe und 2 Tonnen Blech ihr Habitat meinen verteidigen zu müssen.
Es bleibt kompliziert.
Abstellmöglichkeiten für Fahrräder in Leipzig sind leider auch eher knapp. Schilder, die freundlich darauf hinweisen, dass man hier Räder bitte nicht abstellen möge um den wertvollen mit Feinstaub bedeckten Putz, an vergilbten Hauswänden, zu schützen allerdings nicht.
Einen Fahrradbügel am Hauptbahnhof zu erwischen gelingt meist nur wenn man bis um 7 Uhr da ist. Danach müssen Laternen, Bauzäune, Verkehrsschilder und Bäume herhalten weil viele instinktiv wissen, dass Fahrräder nur an sich selbst abzuschließen und für längere Zeit zu entschwinden keine sinnhafte Idee ist, außer man braucht für sich selbst eine Rechtfertigung um ein neues Rad zu kaufen.
An viele Stellen in der Stadt findet man dann zur allgemeinen Warnung ausgestellte Fahrradskelette, die vor dem Radfahren warnen und die mitunter von der Stadtverwaltung liebevoll mit Zetteln geschmückt werden.
Gut auf den Zetteln steht auch nur, dass das Skelett, sollte sich der Besitzer nicht zeitnah einfinden, innerhalb der nächsten Wochen beseitigt wird.
Innerhalb der nächsten Woche ist dabei ein dehnbarer Zeitpunkt. Ich glaube, dass die Anzahl derer, die einen halbverrosteten Rahmen, ohne alles, der noch irgendwo angeschlossen rumliegt ihr eigen nennen, diesen dann einsammeln, nachdem die Stadt freundlich mit einem Zettel darauf aufmerksam gemacht hat, gering ist. Aber das ist nur ein Glaubenssatz.
Alles jedenfalls schwierig.
Nicht verhehlen will ich auch, dass ich mir gestern einen Nagel eingefahren habe, was mir erst durch das seltsame metallische Geräusch auffiel, das entstand als der Nagel an der Innenseite des Schutzbleches Kontaktversuche unternahm. Wie durch ein Wunder blieb der Schlauch unverletzt und ich zwar mordsmässig angefressen und dann doch wieder befriedet.
Es ist halt manchmal auch alles nur halb so schlimm. Zum Beispiel auch so wie dieser Text.
Nehmt Rücksicht aufeinander. Klaut keine Räder, verteilt keinen Dreck und achtet das Leben von Fußgänger;innen und nun ja, nicht alle Autofahrer;innen sind Schweine, manche allerdings schon. Genauso wie Radfahrer:innen und Fußgänger:innen. Möglicherweise weil es alles Menschen sind.